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Zurück in Ostfriesland (Tag 100)

Pünktlich um 7:30 Uhr wachen wir auf und machen uns frisch. Dann klappen wir das Schlafsofa zusammen und ziehen die Bettwäsche ab. Es ist Tag 100 unserer Reise und wir können es kaum glauben. „Früüüühstück?!“, ruft Tante Renate freundlich, aber bestimmt aus dem Erdgeschoss. Lieber schnell nach unten. Wir schnappen unsere Taschen und stehen kurze Zeit später vor einem reich gedeckten Frühstückstisch. Ein frisch gekochtes Ei, je eine Wurst- und Käseplatte, Marmeladen, Kaffee und Tee. Was will man denn mehr? „Gut geschlafen?“, fragt Renate. „Ja.“, sagen wir noch immer etwas müde. Beim Blick aus dem Fenster stellen wir fest, dass sich der Wetterbericht geirrt zu haben scheint. Sonnenschein, blauer Himmel und beinahe Windstille! Wir frühstücken und sprechen noch ein bisschen. „Och, Nein!“, sagt Kyra mit einem Seufzer. Als Michi sich umdreht versteht er was los ist. Es regnet wieder, aus dem hellblau wurde ein dunkelgrau und aus der Flaute ein böig auffrischender Wind. Egal wir müssen los. „Sind denn eure Schuhe trocken geworden?“, fragt Renate besorgt und ergänz, „Sonst werfen wir sie noch eben in den Trockner.“. „Fast, aber die werden ohnehin wieder nass.“, sagt Kyra. Dann tragen wir die Taschen zu den angespannt wartenden Eseln. Emil und Elias wollen los und sich im heimischen Fahrradkeller ausruhen. Nicht ganz so elegant, wie am Anfang, schwingen wir uns auf die beiden. Wir bedanken uns bei Renate und winken ein letztes Mal. Dann rollen wir los. „Da die Wasserfontäne im Park ist nicht an.“ „Stimmt, das war am ersten Tag anders.“, stellen wir fest. Immer wieder fahren wir an markanten Punkten vorbei, die sofort Momente lebhaft vor das innere Auge führen, die ansonsten tief im Gedächtnis vergraben geblieben wären. Wahnsinn, wie lange das bereits wieder her ist. Zwei Radreisende überholen uns. Die beiden wollen in 8 Tagen in Den Haag sein. Heute ist ihr erster Tag und es geht „nur“ noch nach Jever. „Bis nach Emden wollt ihr noch? Das sind doch noch über 100 km.“, fragt der Mann etwas irritiert. „Na klar, insgesamt so 107 km, aber das ist unser letzter Tag, Tag 100, und das schaffen wir auch noch.“, sagt Michi fröhlich, mit etwas Stolz und zugleich Wehmut in der Stimme. Wir reden noch etwas über unsere Touren und dann trennen sich die Wege an einer alten Windmühle. Der Gegenwind nimmt zu, aber der Regen verschont uns bis auf einen Wolkenbruch.

Wir rauschen an von Gräben durchzogenen Viehweiden vorbei. Ein paar Wäldchen und der Deich Rahmen die Szene ein. „Schau, hier haben wir das Fischbrötchen und den Kuchen gegessen!“, sagt Kyra entzückt. Doch das Lädchen hat geschlossen und wir haben ohnehin noch keinen Hunger. Wir fahren genau zwischen Zwei Wetterfronten im gleißenden Sonnenschein. Wolkenberge blähen sich auf und Donnergrollen breitet sich dann und wann über die Weiden aus. Wir halten kurz, um Emil und Elias etwas zu schmieren und da passiert es. Die Gewitterfront holt uns ein. Der Wind peitscht uns fast vom Rad. Dicke Regentropfen prasseln auf uns nieder. Der Wind drückt sie in jede Öffnung und als wir nass sind, beginnt es zu graupeln. Die kleinen Eiskörnchen säumen in kürze den Wegesrand. Ein anderer Radreisender kommt uns ebenso lachend entgegen. „Super Radwetter!“, ruft er entzückt. Wir nehmen es auch mit Humor. In Gedanken wissen wir, heute Abend haben wir eine warme Dusche, ein Bett, müssen kein Zelt aufbauen, nichts kochen und morgen muss auch nichts trocken sein. Der Gedanke ist schnell wieder verflogen. Beim Urwaldhof in Neuenburg müssen wir anhalten. Hier haben wir unsere erste richtige Pause in einer Wirtschaft gemacht, ein kaltes Getränk am ersten Tag. Heute sind es zwei Tortenstücke und Eisschokoladen, da uns das Wetter eine kurze Verschnaufpause gibt. Kurz dahinter radeln wir an dem Fahrradgeschäft vorbei. Hier haben wir Kyras Schaltung nachstellen lassen.

Der Wind, unsichtbarer Freund oder Herausforderer, fordert uns ein letztes Mal. Dann erreichen wir Ostfriesland und der Regen lässt erneut nach. Die Sonne trocknet uns schnell, als wir uns südlich von Wiesmoor nach Firrel strampeln.

Dann nördlich von Moormerland treffen wir auf die Mühle des Landhandels Bohlen. Für uns ein sehr markanter Punkt. Auf zahlreichen Radtouren sind wir hier schon vorbeigekommen. Schon sind wir an der A31.

Auf den Feldern danach erwischt uns der Wind erneut mit voller Wucht. An der T-Kreuzung hängt unser erster Hinweis auf Emden, ein Radwegweiser zeigt schwankend und knarrend im Wind nach Norden. Wir folgen ihm. Der bekannte weg knickt nach Westen ab. Eine weitere Unwetterfront zieht auf uns zu. Gegen den Wind ankämpfend sehen wir den Regenschleier von rechts auf uns zuwandern. Erneut werden wir geduscht.

Klitschnass erreichen wir Oldersum. Gleich sind wir… das Emssperrwerk… das Haus am Deich… „Petkum!“, rufen wir beide und da vor uns ist Emdens Ortsschild zum Greifen nah. Fast, als wäre die Probe bestanden, lässt der Regen nach und tröpfelt nur noch vor sich hin. Wir können es nicht glauben. Da ist das Schild, wir fassen es an. Es ist so unwirklich. „Entschuldigung, sucht ihr was?“, fragt ein netter Herr auf dem Fahrrad. Etwas verdutzt schauen wir ihn an. „Ähm… nein, wir… sind nur gerade von unserer Radtour zurück. Wir waren 100 Tage…“, sagt Kyra fröhlich und noch immer ein wenig perplex. „Achsoooo, ihr seid das, die, die da ganz rum sind?! Darf ich ein Foto von euch Zweien machen?“, fragt der Herr freundlich. „Na klar!“, sagen wir und grinsen stolz. Dann verabschieden wir uns. Wir machen selbst noch ein Foto und dann radeln wir durch Emden.

Es fühlt sich weiterhin komisch an. „Wir sind zurück! Waren wir wirklich weg? Haben wir alles nur geträumt?“, rasen uns die Gedanken durch den Kopf. Erinnerungen an die Tour ziehen im Geiste vorbei. Doch wir sind hier und wir waren in Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen. Wir haben Deutschland über Puttgarden verlassen und es in Ahlbeck erneut betreten. Wir haben Wikingergräber und die Marienburg gesehen, Berge erradelt und Wasserfälle in Tälern bestaunt, uns von Mücken in unendlichen Wäldern zerstechen lassen und Störche hoch über unendlichen Feldern gen Süden ziehen sehen. Jetzt sind wir zurück und rollen auf den Stadtgarten. Wir stellen die Drahtesel ab und setzen uns ins Grand Café.

Mit dem Blick, vorbei am Brunnen auf den Delft, genießen wir die letzten Minuten unserer Tour. Gestärkt und gut gelaunt kaufen wir noch Kleinigkeiten im Kiosk, um uns den Abend daheim gemütlich zu machen. Dann rollen wir nach Hause. Die Nachbarn begrüßen uns und helfen uns die Taschen hochzutragen. Emil und Elias Rasten im ersehnten Fahrradkeller und wir genießen eine heiße Dusche. Anschließend lassen wir uns auf die Couch fallen und kuscheln uns in eine warme Decke. Ein Traum! Doch auch dieser Tag endet. Wir wandern von der einen perfekten Schlafgelegenheit, der Couch im Wohnzimmer, zur nächsten ins Bett des Schlafzimmers. Erschöpft, glücklich und noch immer nicht ganz sicher, ob wir alles wirklich erlebt haben, schlafen wir mit den Gedanken an Gletscher, Städte, Rentiere, Füchse, Elche und vor allem all die tollen Begegnungen ein. Ist das wirklich das Ende?

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