Von Kiefern, Fichten und Feuer (Tag 59)
Nach 11 h Schlaf sind wir noch immer müde. Es hilft nichts. 9 Uhr, wir müssen loslegen. Kyra schreibt einen Blogeintrag und Michi bereitet das Frühstück – Frühstücksflocken mit warmer Milch und Zimt, dazu heißen Kaffee. Irgendwie geht alles schlecht von der Hand. Ein gutes Frühstück sollte den Akku wieder aufladen, oder? Die Sonne bahnt sich zur Motivation einen Weg durch die Wolken und es scheint fast, als könne es ein Tag voller… nicht zu laut sagen: „…Sonnenschein werden.“, sagt Michi. „Sag das nicht! Immer wenn wir…“, erwidert Kyra gespielt verärgert. „Ich weiß, ich weiß. Ich bin schon ruhig!“, antwortet Michi sichtlich amüsiert. So genießen wir unser Frühstück im Sonnenschein und bauen langsam alles ab. So richtig in die Gänge kommen wir dennoch nicht. „Vielleicht hätte ich vorgestern auf den letzten Kilometern doch eine Jacke überziehen sollen.“, stellt Michi mit einem Schniefen sowie dem Blick zurück auf den Laavu fest.
Es liegt nichts mehr herum, wir fahren los. Es geht vorbei an Feldern voll goldgelber Gerste und Roggen, durch Wälder und an einem gestauten Fluss vorbei.
Ein kleiner, in Dänemark und Südschweden noch als mächtiger beschriebener, Anstieg ist schnell erklommen. In Utajärvi füllen wir bei einer kleinen Filiale der hiesigen Kette, K-Markt, unsere Lebensmittelvorräte auf. Ein Eis darf natürlich nicht fehlen. Ein älterer Herr spricht uns auf Finnisch an. Es entsteht ein Gespräch, das im wahrsten Sinne Hand und Fuß hat, da Englisch nur bedingt weiterhilft. Dennoch ist nach kurzer Zeit klar, dass er von der Tour begeistert ist und selbst mit 69 an 5 Tagen die Woche, sofern das Wetter es zulässt, 50 km Rad fährt. Respekt! Wir verabschieden uns und nun fehlen uns „nur“ noch Trinkwasser-Reserven. Es mag komisch klingen, aber Friedhöfe helfen bei dieser Problematik bisweilen sehr gut weiter. Diesmal ist das Wasser jedoch braun gefärbt und leicht eingetrübt. Es kann nur ein hoher Eisenanteil sein und somit unbedenklich, aber auf der Tour wollen wir das heute lieber nicht testen. Wir haben noch 1,5 L Wasser plus etwa 1 L Orangensaft und somit werden wir sicherlich nicht verdursten. Doch etwas anderes machen einem die Friedhöfe auch immer bewusst. Wir leben und erleben, wie viele vor uns, in ganz anderen Zeiten 1795 – 1885, in ereignisreichen und schweren Zeiten 1905 – 2003… und bestimmt werden auch viele nach uns viel erleben. Allerdings wird einem hier immer wieder bewusst, wie viele ungeschriebene Geschichten mit erfüllten und unerfüllten Träumen, Leid und Freude an diesen Orten ruhen. Der Blick auf Johanna, 1990 – 1995, macht ebenso deutlich, dass uns allen nicht die gleiche Zeit vergönnt ist und man nie weiß, wann und wie das letzte Korn der eignen Sanduhr fällt. Darum wollen wir weiterhin jeden Tag der Reise und alle weiteren möglichst bewusst erleben. Denn, wenn man jedes Korn einzeln ansieht und erkennt, dass dieses von unterschiedlicher Farbe, Form und Größe ist, fällt es für die betrachtende Person langsamer. „Es ist schon 14 Uhr durch!“, stellt Michi erschrocken und mit mahnendem Ton fest. Schnell satteln wir wieder auf. Finnland macht es einem bisweilen nicht leicht mit den Facetten der Sandkörner. Die Straße ist schnurgerade, es geht leicht auf und ab, links und rechts erstrecken sich schier endlose Nadelwälder.
Der Verkehr nutzt die E8, wir sind fast allein und strampeln vor uns hin. Ein paar Birken links. Nadelwald. Eine Wiese mit Scheune rechts. Nadelwald. Nadelwald mit nach Nadelwald riechenden Kiefern und Fichten. Dann und wann ein wahrlich majestätischer Hügel der Waldameisen, laut Kurzrecherche der Formica aquilonia, aus… abgefallenen Nadeln der Nadelbäume des Nadelwaldes. Waldameisen sind schon faszinierende Tiere des Nadelw… Oh Gott ein Perspektivenwechsel muss her und das schnell. Fridolin ist zur Stelle und hebt in den blauen Himmel ab. Nach einer Stunde, 2 Akkus, unzähligen Landungen/Starts aufgrund des spontan erhöhten Verkehrsaufkommens und mehreren Mückenstichen, sind 3 Bilder und 2 kurze Videosequenzen im Kasten. Leider hat auch Frido die Feuchtigkeit etwas zugesetzt und so ist seine Kameralinse etwas beschlagen... von innen. Das Wetter ist top, die Laune gleicht dem Wasser und der Linse, ein wenig eingetrübt.

Auf der Staatsstraße 22 angekommen, entscheiden wir uns wegen des deutlich geringeren Verkehrs, im Vergleich zur E8, sowie der fortgeschrittenen Uhrzeit gegen das Navi und den digitalen EuroVelo mit seinen Sandpisten, eine Beschilderung dessen suchen wir seit Tagen leider vergebens. Auf einmal läuft es. Der Asphalt ist perfekt, kein Gegenwind, Sonnenschein und vielleicht haben unsere Drahtesel doch ein paar Rennpferde im Stammbaum. Emil und Elias preschen mit konstant über 20 km/h dahin.

Die Kilometer purzeln und wir haben wieder richtig Spaß! Dass es den ganzen Weg nach Paltamo leicht bergauf geht, können wir kaum glauben. Mit eingeschalteter Beleuchtung erreichen wir den Ort und fahren direkt zum Shelter. Dieser liegt hinter einem Wohngebiet in einem Frisbee-Golf-Park im Nadelwald und entpuppt sich als Kota, eine Grillhütte.
Kurzerhand werden die Bänke zusammengestellt, Isomatten aufgeblasen, Emil und Elias in die Hütte gerollt, Nudeln mit Pesto gekocht, Abwasch, Körperhygiene und Tür zu. Sichtlich erschöpft und leicht angeschlagen, fallen wir auf die Isomatten und kriechen in den Schlafsack und schlafen nach einem doch ereignisreichen Tag mit einem Grinsen ein. Es riecht nach Kiefer, Fichte und Feuer.