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Polarkreis (Tag 33)

Dicke Tropfen schlagen in einem sich stetig ändernden, ja sich überschlagenden Rhythmus auf das Zelt ein. Der Wind drückt es nach links, eine Böe reißt es nach rechts. Es ist kalt, feucht, dunkel… kurzum, eine ganz normale stürmische Sommernacht in Norwegen. Michi wacht auf und nimmt schlaftrunken die Szenerie noch nicht richtig wahr. „Was zum…?“, sagt er sich verschlafen aufrichtend. Der Zelthimmel tanzt, nein zappelt vor sich hin. Laut fluchend weckt er spätestens jetzt Kyra, die jedoch bereits die Augen aufschlägt. Beiden wird schlagartig klar: „Wir müssen das Zelt abstützen!“ Trotzig faucht der Sturm zurück. Es ist etwa 3 Uhr morgens. Nach kurzer Zeit halb in der Kälte erkennt Michi leicht verzweifelt, „Ich muss mal!“… da raus. Kyra stützt beide Seiten. Michi schält sich komplett aus dem Schlafsack und in die Jacke. Aus dem Innenzelt, in das Außenzelt. Aus dem Außenzelt, in die kalte Nacht. „Schnell das Zelt schließen“, denkt er und eine Sekunde später ist er bis auf die Unterhose nass. Nun ist alles egal, nach der Notdurft wird das Zelt zusätzlich von außen abgespannt. Es wird deutlich stabiler. Ein prüfender Blick zu Emil und Elias und zurück ins Zelt. irgendwie nichts nass machen, alles ausziehen. Das Zelt beobachten. Dem Sturm lauschen. Er lässt nach. Schlafsack… schlafen… Wir haben es geschafft. Verschlafen gehen wir in die Morgenroutine über.

Auch die kleinen Mücken sind bereits wach. Einfach nur schnell weg von dem, vollgesogenen Moosen, die bei jedem Schritt das Wasser an dem SPD-Klicksystem vorbei in den Schuh drücken. Beim Losfahren rutscht Elias auf dem durchweichten Boden aus und Michi verheddert sich zudem am Gepäck. Ein kleiner Sturz. Doch nur der Helm hat ein zwei Macken abbekommen und ein blauer Fleck kündigt sich am rechten Unterschenkel an. Es geht etwa 20 km am Fjord entlang zu dem Fähranleger, zu dem Franz am Morgen abgekürzt hat. Es geht durch graue Felsen in einer langen Rechtskurve empor. Ein Museum zu einer deutschen Festungsanlage aus dem zweiten Weltkrieg taucht linker Hand auf. Wir halten kurz, lesen die Infotafel und fahren weiter. Am Sanitätsbunker und den Zwangsarbeiter-Baracken vorbei geht es weiter den grauen Felsen hinauf. Ein atemberaubender Ausblick über Inseln und das Wasser tut sich auf. Bei der Abfahrt erblicken wir im Vorbeifahren einen Wasserschlauch mit einem Schild „Fresh water! Enjoy!“. Richtig nett. Unsere Tanks sind noch voll und so fahren wir an Austernfischern vorbei, die auf Algenbewachsenen Steinen im glasklaren Wasser stehen. Hinter ihnen ragt am anderen Ufer erneut ein beeindruckender Berg empor.

Natürlich ergießt sich ein Wasserfall majestätisch ins Tal. Es sieht wirklich fantastisch aus, doch merken wir beide, dass wir uns so langsam an diese, vor kurzem noch absolut atemberaubende, Momente gewöhnen. Wir erreichen den Fähranleger von Kilbogen nach Jetvik. Als Kyra gerade auf der Toilette ist, wird Michi von einer vierköpfigen Familie mit Hund angesprochen. Schnell ist klar, sie kommen aus Rosenheim und reisen mit ihrem Wohnmobil durch Europa. Kyra kommt zurück und wir erzählen von einer anderen deutschen Familie, die Kinder im ähnlichen Alter haben dürfte, in die selbe Richtung unterwegs ist und uns schon mehrfach durch das Puky-Fahrrad am Wohnmobil aufgefallen war. Wir reden noch etwas über unsere Touren und kraulen den Hund. Schon ist die Fähre da. Wir verstauen Emil und Elias in gewohnter Manier, steigen die Stufen in den Salon hoch und schreiben einen Blog-Eintrag. Kyra geht nochmal zur Toilette, Michi ist versunken in den Erinnerungen an die letzten Tage und tippt. Auf einmal ertönt eine klirrende Durchsage über die Lautsprecher: „Dear passengers. We’re about to reach the polar circle. You’ll see a Monument at the starboard side. We…“ Michi springt auf und läuft nach draußen. Kyra kommt verdutzt von der Toilette wieder, sucht Michi und hat überhaupt nichts mitbekommen. Sie sieht Michi jedoch draußen mit der Kamera und zusammen wird ein Blick auf die Statur erhascht.

Ein weiteres Zwischenziel ist somit erreicht. Wir haben tatsächlich den Polarkreis erradelt! Als wir von der Fähre fahren, verabschieden wir uns von der Familie aus Rosenheim. Schnell sind erneut alle Fahrzeuge von der Fähre an uns vorbei und wir haben die gesamte Straße für uns. Das ist auch gut so, denn auf uns warten einige lange Tunnel auf uns. Als wir gerade aus einem Tunnel hinausfahren und eine starke Steigung passieren kommt uns die Fähr-Fahrzeug-Kollone entgegen. Zum Glück mussten wir diese Lautstärke nicht im Tunnel erleben. Nach einem weiteren Tunnel machen wir rast. Es gibt Spaghetti mit dem restlichen Pesto. Während des Kochens spricht uns ein Mann an. Er ist selbst viel Fahrrad gefahren. Eine seiner letzten Touren führte die Donau entlang zum Schwarzen Meer. Heute kann er leider nicht mehr fahren, da seine Kniee nicht mitmachen. Er bewundert es jedoch sehr, wie bepackt wir hier entlang fahren. Als unser Essen fast fertig ist, guckt seine Frau aus dem Wohnmobil heraus und ruft ihn ebenfalls zum Essen. Erneut bekommen wir besuch. Der Vater einer Familie, die wir bereits seit vorgestern immer wieder überholen bzw. von diesen überholt werden, spricht uns an. Wir sind überrascht, dass wir mit dem Fahrrad genauso weit kommen, wie diese mit ihrem Wohnmobil. Unser Vorteil ist jedoch, dass wir ohne Rücksicht auf Kinder, solange wir wollen fahren können. Notfalls gibt es halt später Essen oder einen Schlafplatz. Kurz berichten wir noch von der Familie aus Rosenheim. Nachdem Michi noch einen kleinen Kaffee genießt erwartet uns eine rasante Abfahrt und schwups ist die nächste Fähre von Ågskardet nach Furøy erreicht. Hier berichten uns Schweizer, dass sie mit ihren Motorrädern 600 bis 800 km am Tag fahren. Wir stellen gemeinsam fest, dass das für uns 8 bis 10 Tage sind. Sie wollen weiter bis nach Istanbul. Gegenseitig wünschen wir uns gute Fahrt und verlassen bereits nach 8 min die Fähre wieder. Das Wetter ist derweil immer schlechter geworden, weshalb wir langsam auf Schlafplatz suche gehen sollten. Zunächst springen wir jedoch noch in den Supermarkt und stellen erneut mit mittlerweile jedoch weniger erstaunen fest, dass einige Norweger*innen ihr Auto während des Einkaufens einfach laufen lassen und anschließend mit einigen neuen Plastiktüten den Laden verlassen. Das sind zwei Dinge, die wir niemals von Norwegen erwartet hätten. Die Verschwendung an Energie und Wasser ist uns bereits einige Male aufgefallen und jedes Mal sind wir ein bisschen entsetzt. Entsetzt ist auch bei der Weiterfahrt das richtige Wort. Kyra stellt entsetzt fest, dass hier fast in jedem zweiten Garten neben Adlern, Trollen, Rentieren und Co, nun auch Bären zu finden sind. Gibt es hier etwa Bären? Da uns das schlechte Wetter langsam einholt und die ersten Tropfen auf uns laden, ist die Frage schnell vergessen. Immer weiter geht es am Fjord entlang, aber irgendwie finden wir keinen guten Platz. Mal ist links und mal rechts ein meist verfallenes Haus. Wir sind nicht mehr auf der Haupttouri-Strecke und das merkt man. Die Wohnmobile sind nach der Fähre alle rechts Richtung Tunnel abgebogen. Wir dürfen diesen jedoch nicht passieren und müssen deshalb nach der Umrundung des Fjords auf eine weitere Fähre ausweichen. Wir entscheiden uns noch bis zu dieser zu fahren. Vielleicht erwischen wir die Fähre noch.

Im leiten Regen, kurz vor der Fähre ist es dann soweit. „Hat mein Reifen Luft verloren?“ fragt Kyra verdutzt. „Ich denke nicht“ erwidert Michi. Da wir uns jedoch beide nicht so sicher sind, wollen wir ein bisschen Luft nachgeben. Beim Abschrauben der Pumpe, dreht sich jedoch das Ventil mit ab und so ist der Reifen innerhalb von wenigen Sekunden tatsächlich platt. Schnell ist das kleine Missgeschick behoben und so fahren wir wenige Minuten später beim Fähranleger ein, doch eine Fähre soll heute nicht mehr fahren. Wir haben die letzte Fähre um circa 30-40 min verpasst. Wie ärgerlich, aber erneut haben wir Glück im Unglück. Michi findet einen beheizten Warteraum. Hier breiten wir uns aus und wollen die Nacht verbringen. Da es den gesamten Abend über weiter regnet, sind wir unglaublich dankbar die Entscheidung, weiter zur Fähre zu fahren, getroffen zu haben.

Kurz bevor wir schlafen gehen, bekommen wir jedoch plötzlich „Besuch“. Der Besuch kommt zwar nicht in unseren kleinen Warteraum hinein, fährt jedoch eine Runde über den Fähranleger und guckt sich alles in Ruhe an. Als er uns bemerkt, fährt er mit hoher Geschwindigkeit davon. Nur kurze Zeit später besucht uns ein zweites Auto. Dieser parkt und lässt den Motor laufen. Er fährt ein Stück vor, parkt und lässt den Motor laufen. Er fährt ein Stück vor, parkt und lässt den Motor laufen. Er fährt ein Stück nach rechts, parkt und lässt den Motor laufen. Vielleicht doch lieber zur Schranke? Parkt und lässt den Motor laufen. Wir sind ziemlich irritiert. Was macht der da? „Er sitzt allein im Auto!“ stellt Michi fest. Mitten in der Nacht scheint unser zweiter „Besuch“ Parkübungen am Fähranleger zu machen. Michi guckt kurz in die Nacht hinaus, als er vor der Toilette parkt und den Motor laufen lässt. Als er Michi bemerkt rast auch unser zweiter Besucher davon. Was ein komischer Ort! Weiterhin irritiert schlafen wir im beheizten und beleuchteten Raum ein. Beides können wir nicht regulieren.

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