Neuer Kilometerrekord! (Tag 67)
Es ist 00:05, dunkel und es sind noch 77 km bis Helsinki. Unsere Entscheidung: Erstmal weiterfahren, vielleicht finden wir ja etwas. Doch die Dunkelheit lässt keine Schlafplatzsuche zu. Wir fahren über unbeleuchtete Landstraßen Helsinki entgegen. Hin und wieder überholt uns ein LKW oder Auto. Selten kommt uns auch ein Fahrzeug entgegen, bemerkt uns und macht das Fernlicht aus. Gerade noch scherzt Michi, dass er nun in der Dunkelheit auch keinen Elch mehr sehen möchte, obwohl die Wahrscheinlichkeit besteht, da huscht auf der rechten Seite etwas Richtung Straße. Wir beide schwenken nach links und machen laute Geräusche, bis das Tier sich beruhigt hat und nicht auf die Straße kommt. Wahrscheinlich nur ein Reh, aber ein Zusammenprall braucht man auch mit diesem nicht. Die Landstraßen ziehen sich in unglaubliche gerade Längen und um uns herum wechselt es zwischen bewirtschafteten Flächen und Wäldern. Der Mond scheint durch einen Wolkenschleier in rotgelben Tönen hindurch. Ein bisschen gruselig ist es schon. Zwischendurch kommen wir in hell erleuchtete Städte, doch alles ist bereits geschlossen, bis wir in Järvenpää ankommen. Hier hat ein McDonalds geöffnet und wir versuchen unser Glück auf einen Milchshake. Vergebens, ein Milchshake ist nachts leider nicht zu bekommen, trotzdem essen wir eine Kleinigkeit, nutzen die Toilette und überlegen im Warmen was wir nun tun.

Wir sitzen vertieft am Handy und denken uns Lösungen aus: „Gehen wir in Helsinki in ein Hotel?“ – „Die haben doch schon geschlossen!“ – „In Helsinki gibt es bestimmt Hotels mit einer 24 h Rezeption!“ – „Fahren wir einfach zu einem Campingplatz, bauen das Zelt auf und zahlen am nächsten Tag?“ – „Hmm, das wäre eine Idee, aber wo?“ – „Sollen wir doch in einen Laavu?“ – „Dann können wir auch gleich bis Helsinki…“ Nach ungefähr 30 min meint Kyra: „Guck mal! In der Nähe von unserem Schlafplatz nächste Nacht ist ein Strand! Es sind noch ungefähr 50 km bis Helsinki und es ist bereits 02:30 Uhr, vor 03:00 Uhr kommen wir nicht los und in unserem Zustand brauchen wir bestimmt 4 Stunden. Somit wären wir gegen 7:00 Uhr da, können uns an den Strand legen und ein bisschen Sonne tanken. Dabei schlafen wir dann entspannt ein.“ Michi findet die Idee gut und so wird eine Route geplant. Wir verlassen satt und mit einem Kaffee gegen die Müdigkeit gestärkt den Fast-Food-Laden. Nun heißt es durchbeißen! Die ersten Kilometer gehen auch erstaunlich gut. Die Müdigkeit ist fast verflogen und wir können entlang des Tuusulanjärvi alte Häuser und Villen betrachten. Seit der Pause haben wir kein Auto mehr gesehen und sind fast erschrocken als wir in der Ferne zwei Lichter sehen. Das Auto scheint sich uns schnell zu nähern, aber wird irgendwie nicht richtig größer. Verwirrt gucken wir uns an. Kyra fragt: „Siehst du das Auto auch oder bilde ich es mir ein?“ – „Ne! Ich sehe es auch…“, aber bereits am Ende von Michis Antwort fangen wir beide an zu lachen. Es nähert sich uns gar kein Auto, sondern die Lichter stammen von einem Rasenmäher-Roboter. Dieser darf scheinbar Tag und Nacht den Rasen des großen Anwesens mähen. Wir kommen aus dem Lachen kaum raus. Anschließend geht es an einem Militärgelände und der Stadt Hyrylä vorbei. In weniger Entfernung liegt der Flughafen Helsinki-Vantaan vor uns und wir hören sowie sehen das ein oder andere Flugzeug den Himmel durchqueren. Die Dunkelheit ist nun nicht mehr so schlimm, der Wald ist fast ganz verschwunden und die Straßen sowie Radwege sind seit unserer Pause gut ausgeleuchtet und in gutem Zustand. In der Ferne beginnt sogar bereits die Morgendämmerung. Die Müdigkeit nimmt erneut zu, doch das Stadtschild „Helsinki“ gibt uns neue Kraft.
Wir entdecken leichten Nebel auf den Feldern und einen Fuchs, der uns irritiert anschaut. Nun ist es bereits hell geworden und nur noch 12 km trennen uns von unserem Strand. Durchbeißen! Ein Tritt nach dem anderen! Nur nicht stehenbleiben! Die letzten Kilometer ziehen sich besonders, doch dann… Dann ist es geschafft! Wir sind am Strand angekommen.

Es ist 06:30 Uhr und wir sind genau 200 km gefahren. Ein neuer Rekord für uns! Die ersten Menschen kommen im Bademantel zum Wasser und springen ins kalte Wasser. Wir suchen uns einen Platz ein bisschen abseits, aber trotzdem von dem Steg ins Wasser gut einsehbar, denn auf der einen Seite wollen wir unsere Ruhe und auf der anderen haben wir ein bisschen Angst, dass etwas geklaut wird, sobald wir schlafen. Die Müdigkeit besiegt die Angst schnell. Kyra legt den Footprint und darüber Handtücher in den Sand, Michi holt die wichtigsten Sachen und schon liegen wir mit allen vieren ausgestreckt am Strand. Es dauert keine 5 min da sind wir tief und fest eingeschlafen. Nach ungefähr 2 Stunden ist unsere Nacht jedoch schon wieder vorbei. Der Strand füllt sich. Kyra telefoniert kurz mit ihrer Mutter und anschließend ziehen wir unsere Badesachen an. Wir wollen ins Wasser. Dieses ist etwa 17 °C warm, was auf uns unglaublich kühl wirkt. Wir laufen den Steg entlang und gehen über eine kleine Leiter ins Wasser. Brrrrr. Kalt, aber richtig angenehm! Nach der Abkühlung in der Ostsee duschen wir uns noch mit frischem Wasser ab. Nun wollen wir frühstücken.

Es gibt Brot mit Frischkäse, Schinken und restlichen Gemüse. Unsere Vorräte sind aufgebraucht und wir entscheiden uns kurz einkaufen zu gehen. Die Temperaturen sind bereits bei 28 °C, wodurch wir unser Eis noch vor der Supermarkt-Tür essen und einen Eiskaffee trinken. Anschließend fahren wir wieder zurück zum Strand und setzen uns dort für einen weiteren Kaffee ins Café. Kyra fällt ein, dass hier der perfekte Ort sein könnte, um erstmalig auf der Fahrradtour die Hängematte aufzubauen.
Diese Idee wird auch gleich in die Tat umgesetzt, bis sich Jochen meldet. „Ich komme euch bei dem Eiscontainer am Strand abholen.“ sagt er. Also packen wir alles zusammen und fahren entspannt zum Container. Obwohl wir uns nicht kennen und Moni (eine gute Kollegin und Freundin) den Kontakt organisiert hat, erkennen wir uns sofort. Jochen kommt ebenfalls mit seinem Fahrrad. Wir kommen ins Gespräch und verstehen uns gut. Michi sucht sich Zitrone und Mango aus, Kyra entscheidet sich für Haselnuss und weiße Schokolade. Wirklich lecker!

Es ist unser erstes richtiges (italienisches) Eis seit Deutschland oder vielleicht sogar das erste überhaupt auf der Tour? In Dänemark, Schweden, Norwegen und bisher Finnland haben wir einfach keine Eisdiele gefunden und sind auf Eis aus dem Supermarkt ausgewichen. Nach dem Eis folgen wir Jochen nach Hause und als wir gerade ankommen kommt auch Tochter Nathalia nach Hause. Heute Abend soll es Fischsuppe geben. Diese bereitet Jochen vor, wobei wir uns alle gut unterhalten. Wir erfahren einiges über ihr Leben in Finnland und wir berichten von unserer Tour sowie dem Erlebnis der vergangenen Nacht. Die Suppe schmeckt ausgezeichnet! Als Jochen entdeckt, dass Kyra ein Fairphone hat, verwandelt sich der Essenstisch in eine Schraubwerkstatt. Kyra bekommt von Jochen einen Workshop im Auseinanderschrauben des Handys. Seins ist leider vor einiger Zeit ins Wasser gefallen, wodurch er sein Kamera-Modul-Upgrade nicht mehr braucht. Dieses wird nun bei Kyra eingebaut. Vielen Dank! Als wir damit fertig sind, ist es bereits spät und Nathalia schon im Bett. Auch uns fallen die Augen so langsam zu. Wir gehen noch schnell ins Badezimmer, legen uns ins Bett und schlafen binnen weniger Sekunden ein.