Kein Schlafplatz für die Nacht (Tag 66)
Plopp! Plopp! Kkkrrrr. Ein huschen… Wir wachen auf. „Michi, ist das ein Eichhörnchen?“ errät Kyra anhand der Geräuschkulisse. „Ja, ich glaube schon“ antwortet Michi. Plopp! Das Eichhörnchen klettert am Baum herum und sammelt seinen Wintervorrat, von dem die Hälfte runterzufallen scheint. Wir schauen uns verschlafen an, strecken uns und bauen das Zelt ab.

Kyra legt die Plane fürs Zelt auf den Sand vom Strand, Michi bereitet den Kaffee vor und wir frühstücken mit einem wunderschönen Blick auf den See. Bevor es los geht, springt Kyra nochmal schnell ins Wasser. Dieses ist zwar kalt, aber perfekt zum wach und sauber werden. Wir schätzen die Temperatur auf 16-18°C.
Nun kann es los gehen! Wir brechen gegen 9:00 Uhr auf und fahren zunächst in Richtung Lathi. Unser Plan ist dort eine Pause zu machen und anschließend die letzten 30 km zu fahren. Am Ziel erwartet uns eine Kota. Wenn wir diesen Plan durchziehen, sind es morgen nur noch circa 80-90 km bis Helsinki. Also los! Wir bemerken schnell, dass wir uns der Hauptstadt nähern. Die Landschaft verändert sich von unendlichen Waldflächen zu städtischen Gegenden mit viel Landwirtschaft. Große Getreidefelder tun sich zu beiden Seiten auf.

Zudem wird es touristischer. Seit Tagen oder vielleicht sogar Wochen hatten wir kein ausländisches Kennzeichen gesehen, nun fährt jedoch ein Wohnwagen mit Emsländer Kennzeichen an uns vorbei. Etwas später folgen zwei weitere deutsche Kennzeichen. Allgemein sind auf der Straße nun wieder wesentlich mehr Wohnmobile und Wohnwägen anzutreffen als noch vor ein paar Tagen. Nach wenigen Kilometern wandelt sich die Landschaft erneut. Die bewirtschafteten Flächen tauschen mit großen Seen. Der große Päijänne See taucht vor uns auf (er ist der zweitgrößte See in Finnland, die Wasserfläche beträgt circa 1.100 km²) und wir fahren einen zwar etwas sandigen, aber dennoch wunderschönen Radweg direkt am Wasser.
Die kleinen Brücken von Festland zu Insel zu Insel zu Festland zu Insel zu Festland… runden das wunderschöne Erlebnis ab. Finnland zeigt sich heute nach viel Wald von einer ganz anderen Seite! Wirklich wunderschön. Als es nur noch knapp 30 km bis Lathi sind, trauen wir unseren Augen kaum. Ein anderer Radreisender kommt uns entgegen und kämpft sich den Anstieg hoch. „Hey! Were are you from?“ fragt Michi erfreut. „Hi! I started in Düsseldorf!” antwortet er und wir setzen das Gespräch in Deutsch fort. Er stellt sich als Wolfgang vor und ist genau heute vor einem Monat gestartet. Sein Ziel ist zunächst das Nordkap. Anschließend schaut er in Ruhe, wie es zurück geht. Mit dem Fahrrad zum Nordkap zu fahren, ist sein Lebenstraum. Diesen erfüllt er sich nun zur Rente. Wir geben uns gegenseitig noch ein paar Tipps und stellen lustigerweise fest, dass er nur 100 m entfernt von dem Ort letzte Nacht geschlafen hat, wo wir gerne hinwollen. Am Ende tauschen wir noch Nummern aus, damit wir unseren Reisen gegenseitig folgen können. Wir wünschen Wolfgang ganz viel Freude bei der Erfüllung seines Lebenstraums! Bleib gesund! Die letzten Kilometer bis Lathi vergehen schnell. Kyra springt dort in den Supermarkt und besorgt Salat sowie Zaziki für die Kartoffeln, die wir heute Abend über einem Feuer machen wollen. Zudem gibt es ein Eis, Eiskaffee und für jeden ein herzhaftes Gebäckstück zum Mittagessen. Wir setzen die Fahrt über gute Fahrradwege durch Lathi fort. An der Skisprungschanze bleiben wir kurz stehen und wundern uns über die wahnsinnige Größe.

Insbesondere Kyra wird beim Anblick richtig unwohl: „Und da springen die runter? Die sind doch verrückt!“ stellt sie fest „Und die ‚Kleine‘ ist zum üben?“. „Ja“ antwortet Michi etwas amüsiert. Nach Lathi kommen wir nicht weit, denn eine Frau, die am Straßenrand Müll sammelt, lächelt uns an. Sie ruft uns auf Finnisch etwas zu und wechselt schnell ins Englische: „Oh, so nice! Would you like a coffee?“ Wir schauen kurz zur Sonne, aber diese steht noch nicht tief am Himmel, also nicken wir freudestrahlend. Raija führt uns zu ihrem Haus und bringt zwei alkoholfreie Bier. Zudem bekommen wir noch jeder eine frisch gepflückte Tomate und einige Stachelbeeren aus dem eigenen Garten. Lecker! Raija spricht neben finnisch und englisch auch russisch und deutsch. Sie ist Dolmetscherin sowie Lehrerin und hat mit ihrem Mann eine Zeit in Deutschland gelebt, da dieser dort einen Job hatte. Als junge Erwachsene hat sie ebenfalls eine Fahrradreise durch ihre Heimat Finnland gemacht und ihren heutigen Mann kennengelernt. Aus diesem Grund ist sie besonders an unserer Tour und Geschichte interessiert. Sie bietet uns sogar noch Brot und einen Zeltplatz im Garten an, doch wir lehnen beides ab. Unsere Kartoffeln müssen gegessen werden und der Weg bis Helsinki wäre am nächsten Tag einfach zu weit. Wir wären jedoch so gerne geblieben! Mit dem Spruch „Man sieht sich immer zweimal im Leben“ und dem Versprechen dann bei Raija für eine Nacht einzukehren, wenn wir das nächste Mal in Finnland sind, müssen wir weiter. Im letzten Moment drückt sie uns noch eine CD mit selbstgeschriebenen Liedern in die Hand und wir vergessen leider unseren Tee zu überreichen. Das werden wir aber irgendwie nachholen! Gestärkt und erneut berührt von der Gastfreundschaft fahren wir weiter.
Da die Sonne doch wesentlich schneller als gedacht untergeht, sind wir froh, unseren rausgesuchten Schlafplatz noch in der Dämmerung zu erreichen. Die Badestelle sieht wirklich nett aus und bis auf zwei junge Angler ist niemand vor Ort. Eine Stelle an der wir das Zelt aufschlagen können ist schnell ausgemacht, aber zunächst entfachen wir ein Feuer und legen die Kartoffeln auf ein Rost in die Flamme, denn wir aber richtig Hunger! Als diese fertig sind, puhlt Michi die schwarze Haut ab und Kyra bereitet einen Salat.
Eigentlich sollte es fertig Krautsalat mit frischer Gurke und Tomaten geben, doch die finnische Sprache hat uns einen kleinen Strich durch die Rechnung gemacht. Statt Krautsalat gibt es nun Sauerkraut, aber auch dieser schmeckt in einer Salatversion mit Gurke, Tomate und Paprika sowie Knoblauch und Öl. Zudem gibt es Zaziki und Aioli. Lecker! „Irgendjemand ist hinter uns!“ stellt Kyra etwas verunsichert fest. „Ja, das ist der Mann, der mit dem Fahrrad gekommen ist“ meint Michi „er redet auch die ganze Zeit mit sich selbst“. „Der telefoniert bestimmt. Der hat ein Handy in der Hand“ meint Kyra. Nach dem Essen wird die Stimme des Mannes immer lauter und klar, dass er doch mit sich selbst spricht. Er scheint immer wieder ähnliche Sachen zu wiederholen und bereits gut alkoholisiert zu sein. Als er sich ein weiteres Bier öffnet verschwinden die zwei Angler. „Kyra? Das erinnert mich an den Italiener auf Rügen! Wir müssen hier weg“ sagt Michi. Bei unserer zweiten Radreise auf dem Ostseeküstenradweg waren wir auf Rügen auf einem Campingplatz. Dort zerlegte nachts ein Mann alkoholisiert sein Zelt. Er schlug wild um sich und rief auf Italienisch für uns unverständliche Sachen, doch es waren auch Sätze wie „Ich bring euch alle um!“ und „La bestia. Ahhhh!“ dabei. Damals riefen wir noch in der Nacht die Polizei, gegen die er sich lautstark wehrte. Sowas wollen wir diese Nacht nicht nochmal erleben. Aus diesem Grund packen wir alles ein und fahren los, ohne zu wissen, wohin es gehen soll. Es ist bereits dunkel, der Mond steht hell am Himmel und die Sterne leuchten.

Etwas verunsichert suchen wir auf dem Handy nach möglichen Stellen, an denen wir unser Zelt aufschlagen können, denn die nächsten Laavus sind entweder zu weit weg oder zum Schlafen laut Bilder unpassend. Auf dem Weg in Richtung Süden biegen wir zweimal in eine Seitenstraße ein, doch es ist einfach zu dunkel und wir können keinen Schlafplatz ausmachen. Kyra wird es im dunklen Wald zu unheimlich und schlägt vor erstmal weiterzufahren. Das machen wir dann auch. Auf der Landstraße geht es an vereinzelten LKWs und Autos vorbei. Gegen 00:00 Uhr entdecken wir eine Raststätte mit einem Burger King. „Meinst du der hat noch auf? Wir könnten einen Milchshake trinken und unser weiteres Vorgehen überlegen“ meint Michi, doch als wir uns drinnen umschauen, erkennen wir, dass der Burger King gerade geschlossen hat. Wir sind 5 min zu spät. Es ist 00:05, dunkel und es sind noch 77 km bis Helsinki.