Deutschland hat uns wieder! (Tag 92)
Um 7 Uhr klingelt der Wecker und wir stehen auf, denn ein hervorragendes Frühstücksbuffet wartet auf uns. Also hüpfen wir entspannt die Treppen hinunter. Als wir unsere Raumnummer nennen ernten wir irritierte Blicke. Wir stehen nicht auf der Liste. Da die Verständigung schwierig ist wollen wir mit dem Übersetzer arbeiten, doch die beiden Mitarbeiterinnen verschwinden in der Küche. Kurze Zeit später kommen sie wieder und geben uns zu verstehen, dass sie eine vorgesetzte Person benachrichtigen. Nach weiteren 10 min dürfen wir das Buffet nutzen. Da jedoch nur ein „okay!“ kommt und auf das Buffet gezeigt wird, fühlen wir uns weiterhin ein bisschen, als würde man uns nicht glauben. Die Reservierungsbestätigung auf Michis Handy sagt jedoch eindeutig „mit Frühstück“. Wir genießen unser Frühstück trotzdem.

Kurz bevor wir fertig sind, kommen weitere Gäste und wir bekommen noch so gerade mit, dass auch diese nicht auf der Liste stehen… Wir gehen zurück auf unser kleines Zimmer, schreiben ein Blogeintrag, packen alles zusammen und machen uns pünktlich um 11:00 Uhr auf den Weg zur Rezeption. Emil und Elias warten bereits im Kofferraum auf uns. Routiniert satteln wir auf und verlassen das Hostel. Zunächst wollen wir noch Einkaufen, denn die letzten 150 Złoty müssen ausgegeben werden. Kyra verschwindet für eine Zeit im Supermarkt und kommt mit allerhand Sachen wieder: „Mist! Wir haben noch 30 Złoty über! Sollen wir diese verschenken?“ Michi nickt und wir schmieden den Plan, unsere Złoty an andere Radreisende an der Grenze zu verschenken. Die 120 Złoty sind umgerechnet ungefähr 24 € und die Einkaufstasche ist bis oben hin gefüllt. In Norwegen hätten wir das drei- bis vierfache ausgegeben und wir vermuten bereits jetzt, dass es in Deutschland nicht viel anders aussieht. Nachdem wir noch kurz mit einer Frau, die mit Hund auf ihren Mann wartet, sprechen, starten wir in Richtung Grenze. Wir fahren an der modernen Promenade vorbei und schlängeln uns durch die Menschenmasse auf dem gemeinsamen Fuß- und Fahrradweg. Noch bevor wir die Grenze sehen, werden wir emotional. Vor 5 Jahren haben wir diese Grenze zum ersten Mal überquert. Damals sind wir den Ostseeküstenradweg von Lübeck über Rügen bis nach Świnoujście (Swinemünde) gefahren. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass wir Nordeuropa mit dem Fahrrad bereisen werden. Nun haben wir 8 Länder innerhalb 3 Monate durchquert und sind kurz davor das letzte zu verlassen. Etwa 7.600 km liegen hinter uns. Fantastische Momente mit atemberaubender Natur und herzlichen Menschen… Und jetzt ist es soweit… Emil und Elias rollen langsam erst mit dem Vorderrad und anschließend mit dem Hinterrad über die gekennzeichnete Stelle am Boden. Deutschland hat uns wieder! Wir stellen die Räder an den Rand und Kyra kramt schnell eine Sonnenbrille aus der Lenkertasche, damit die etwas nassen Augen unbemerkt bleiben. Wir umarmen uns stolz und genießen den Augenblick. Wieder einmal wird uns bewusst, was für ein großes Glück wir haben.
Das Privileg einfach so über Grenzen zu fahren, ohne Warten, ohne Kontrolle und ohne Angst. Ein breiter freier Streifen im Wald erinnert an Zeiten, an denen das noch nicht so war und diese sind noch gar nicht lange her. Polen ist im Jahr 2004 der EU beigetreten und 2007 dem Schengen-Raum. Die Promenade zwischen Ahlbeck und Świnoujście (Swinemünde) wurde 2011 gebaut und auf dieser machen wir nun zum zweiten Mal ein Foto von uns samt Drahteseln.

Anschließend stellen wir die Fahrräder erneut zur Seite und genießen unser zuvor gekauftes Mittagessen. Dabei reden wir mit einigen Leuten, die ebenfalls das Treiben am Grenzübergang beobachten. Dann kommen zwei junge Frauen, Radreisende von Deutschland in Richtung Polen gefahren. Wir fragen sie, ob wir ein Foto von ihnen machen sollen und schenken ihnen die 30 Złoty. Kurz bevor wir fertig gegessen haben, kommen zwei Personen über die Promenade gelaufen. Sie kommen aus Deutschland und möchten zu Fuß nach Polen rüber. Die beiden sprechen uns an und wir erfahren schnell, dass dieser kleine Schritt nach Polen mehr als nur dieser bedeutet. Wolfgang wurde 1944 in Ostpreußen geboren. Als Säugling wurde er mit einem Sanitätstransporter Richtung Westen gebracht. 1998 kehrte er mit seiner Frau Christel zum ersten Mal zurück in seine Geburtsstadt. Damals war das Überschreiten der Grenze, sowie die Hotelsuche noch nicht so leicht. „Wir mussten über den ADAC buchen. Dieser buchte wiederum über eine polnische Firma, welche anhand der zu besuchenden Orte Hotels auswählte.“, erzählt Christel. Für den Geburtsort gab es dann noch nicht einmal ein passendes Hotel. Doch die beiden insistierten und bekamen zähneknirschend eine Unterkunft. Alt, heruntergekommen und mit einer Toilette nicht etwa auf dem Zimmer… Nein, in der Mitte eines ansonsten leeren Konferenzsaals stand der Tron aus Keramik. Wir berichten kurz, wie viel sich allein in den letzten 5 Jahren positiv in Świnoujście geändert hat. Im weiteren Gespräch erfahren wir, dass seine evangelischen Vorfahren aus Salzburg vertrieben in Ostpreußen neues Land bekommen haben, um das durch die damalige Pest entvölkerte Land neu zu besiedeln. Dann verabschieden wir uns, denn es ist Zeit weiterzufahren. Wir schwingen uns auf die Drahtesel und fahren weiter nach Ahlbeck. Voller Genuss ist unser Blick mal auf die Ostsee und mal auf die schönen Gebäude entlang der Strandpromenade gerichtet. Der Rad- und Fußverkehr hat seit dem Passieren der Grenze nochmal ordentlich zugenommen. Nach einem kleinen Abschiedsbild von der Ostsee geht es nun in Richtung Süden.
Die flache Landschaft geht in sanfte grüne Hügel über. Hier und da durchfahren wir ein Wäldchen, ehe sich erneut eine weite Ebene vor uns ausbreitet. Das Oderhaff. Dann stehen wir in Karnin vor der Fähre. „Ick nehm se jern um halbe mit.“, sagt der Fährmann freundlich. Puh noch etwa 10 Minuten, haben wir ein Glück. Wir gehen zum Kaffee-, Würstchen-, Bier-, Ticketschalterwagen. „2 Fahrräder, 2 Erwachsene, macht 22 €. Keine Kartenzahlung.“, sagt die Frau hinterm Tresen. Mist! Wir brauchen Bargeld… „Der nächste Automat is in Usedom Stadt.“, ergänzt sie etwas belustigt, dass wir kein Bargeld dabei haben. Ein junger Mann meint von hinten beifällig: „Wat denken se denn? Nja, dit is ‘n ländlicher Raum.“ Doch der Fährmann eilt zur Hilfe. „Sie könn‘ auch online buchen. Wenn Sie das schaffen. Komm‘ se erstmal rauf.“ Wir schieben die Räder auf die Fähre und zum Glück klappt die Online-Buchung. „Immer langsam, junger Mann. Hier machen 5 Minuten später nichts aus.“, beruhigt er Michi, der verzweifelt sein PayPal-Passwort, auf dem seit Norwegen etwas verwischten Zettelchen, zu entziffern versucht. Wir legen ab und die weiteren Passagiere geben uns gleich noch ein paar Informationen zur Hebebrücke. Diese war früher für den Zugverkehr nach Peenemünde gedacht und ehemals sogar eine Drehbrücke. Kurz vor Ende des Krieges wurde die Brücke jedoch von deutschen Soldaten gesprengt. Einzig die Hebeanlage und der Pfeiler zum Schwenken der Brücke blieben stehen. Auf der anderen Seite verabschieden wir uns von allen und bedanken uns nochmal für das Warten. Mit Rückenwind rauschen wir vorbei am Anklamer Stadtbruch.
Eine faszinierende Landschaft. Tote Bäume ragen aus dem Wasser, Zahlreiche Wasservögel und am heutigen Tag dichter Dunst verleihen dem Bruch ein mystisches, schönes und zugleich etwas unheimliches Antlitz. Welch beeindruckende Natur und dazu erst diese riesigen Wolken und… Moment ein Gewitter baut sich um uns herum auf und wir rasen direkt darauf zu. Zuerst verschwinden die Windräder im Regen und dann wir. Überall blitzt und donnert es. Nachdem wir von der Bundesstraße auf Kopfsteinpflaster abgebogen sind, ziehen wir seit einer gefühlten Ewigkeit die komplette Regenkleidung an. Der Weg wird schlechter und tiefe Pfützen liegen vor uns auf dem Sandpfad. Elias traut sich… und versinkt. Ein Fuß muss abstützen und ist direkt durchtränkt mit braunem, kaltem Wasser. Es hilft nichts wir müssen weiter. Vorbei am Galenbecker See… Mehr Sand. Emil und Elias knirschen und lassen die Reifen durchdrehen. Emil hat keine Lust mehr und legt sich hin. Doch Kyra stellt ihn erneut auf. Zum Glück ist alles gut gegangen. Nur noch ein paar Meter den Hügel hinauf und…
Endlich erreichen wir eine asphaltierte Straße. Im Hellen werden wir nichtmehr ankommen. Wir helfen noch einer Kröte über die Straße und kommen am Campingplatz an. Wir werden nett, wenngleich etwas desinteressiert empfangen. „Nach so einer Tour macht euch das bisschen Regen was aus?“, fragt der Besitzer belustigt. „Na gut, ich lasse Euch die Markise noch offen, macht später einfach hier“, er deutet auf einen Schalter, „das Licht aus.“ Mit nassen Füßen bauen wir das Zelt unter der Markise auf und tragen es zur Zeltwiese. Wir ziehen die nassen Regensachen aus und beginnen unter der Überdachung zu kochen. Michi schreibt Blog. Der Besitzer kommt nach 5 Minuten und fährt, ohne zu warten, die Markise ein. „Nun muss ich euch leider doch das Dach nehmen.“ So stehen wir etwas verdutzt, hastig die Elektronik und Kleidung einpackend, 30 Sekunden später mit Regenjacke vor unserem Kocher im Regen. Unverständlich, aber egal! Wir essen Spaghetti und trinken ein Tässchen Wein, putzen unsere Zähne und verschwinden ins Zelt.