Auf nach Vilnius (Tag 76)
Der Wecker klingelt früh am Morgen. Der restliche Campingplatz ruht und ebenso ist die Stadt in tiefem Schlaf versunken. Da bis 7 Uhr Nachtruhe herrscht, bauen wir schweigend das Zelt ab. Dann rollen wir mit den Drahteseln zur Küche des Campingplatzes. Wir laden alle Geräte und Michi zaubert aus den Resten ein Frühstück. Am ehesten lässt es sich als „arme Ritter“ bezeichnen. Das übrige Toastbrot und die Pfannkuchen-Fertigmischung bilden die Basis. Dazu gibt es Kaffee und wir schreiben ein bisschen Blog. Elias bekommt nochmal etwas Luft ins Hinterrad und schon sind andere Camper wach. Als diese sich bereits aufmachen – wo ist den schon wieder unsere Zeit geblieben – fragen wir sie, was wir am besten gegen freilaufende Hunde machen könnten. „I don’t know, but my girlfriend also afraid. Even little dogs.”, sagt der junge Mann freundlich und mit starkem Akzent. Wir versuchen noch etwas zu reden, aber Smalltalk scheint nicht auf der Tagesordnung zu stehen. „Have a good trip and good luck.“, wünscht er uns und die beiden rollen mit Zelt und Auto vom Campingplatz. Wir packen nochmal ein paar Steine ein und fahren ebenso los. Der Radweg ist einfach einsame Spitze! Es geht vorbei an einem Kletterwald, einer kleinen Freilichtbühne… „Was zum… wie gruselig!“, sagt Michi und würde gerne auf die zahlreichen Skelette in den Bäumen deuten, aber dafür ist der kurze Anstieg zu stark. „Ja, echt komisch.“, erwidert Kyra keuchend.
Ein wenig irritiert fahren wir weiter durch ein Waldstück. Hier reihen sich zahlreiche Parkplätze aneinander und ein Park mit Holzskulpturen erregt unsere Aufmerksamkeit. Nach einer kurzen Pause geht es weiter und der Wald lichtet sich.
sehen das gewohnte Bild aus kleinen Dörfchen und weiten Feldern. In Balninkai rasten wir nach 30 km. Kyra springt kurz in den kleinen Laden und Michi schraubt den Fahrradständer Emils erneut fest. Gekühlt durch ein tropisches Wassereis und gestärkt durch eine Banane sowie Nektarinen geht es hinunter zum malerischen See. Doch wo es hinab geht, geht es zumeist auch erneut hinauf. So ist es und 10 % Steigung sind nun auch in Litauen keine Seltenheit mehr. In strahlendem Sonnenschein strampeln wir erneut durch ein Wäldchen und Ortschaften. Es ist schwül und die Luft steht.
Bei einem Denkmal machen wir noch einen kurzen Zwischenstopp, dann erreichen wir Paberžė. Die geplante Pause ist bitternötig. Wir haben Hunger und Durst. Erschöpft sitzen wir mit Wurst, Käse, Brötchen und Eistee auf dem warmen Asphalt vor dem Laden. Zwei Radreisende biegen zu uns ein. „Are you staying outside for a while?“, sagt der eine mit Blick auf ihre Räder. Natürlich passen wir kurz auf die Räder auf. Als die beiden erneut herauskommen stellen sie sich vor. Darius aus Deutschland und sein niederländischer Kommilitone studieren Psychologie in Vilnius. Sie sind auf dem Weg zum Konzert eines Bekannten. Doch während wir reden, ziehen dunkle Wolken auf. Ein Hitzegewitter ist im Anmarsch und so verabschieden wir uns.

Nach ein paar Kilometern haben sich die Cumulonimbus Wolken bereits stark ausgedehnt. Links und rechts scheint es bereits zu regnen. Erste Blitze zeigen an, dass es so langsam Zeit wird die getrocknete Wäsche vom Rad zu nehmen und sich zu sputen. Mit leichten Tropfen erreichen wir die A14 und das Stadtschild. Kleine Straßen führen ohne Beschleunigungsstreifen seitlich auf die mehrspurige Straße, bzw. von dieser ab. Für uns ist das wahrlich ungewohnt und wir hoffen, dass kein Auto abbiegt, wenn wir über solch eine Seitenstraße rollen. Dann erreichen wir die Stadt und folgen dem EuroVelo 11 an der Neris entlang.
Starker Regen hat eingesetzt und es blitzt und donnert. Bäche rinnen die Straßen hinab, der Wind, lässt die Bäume tanzen und dann… so schnell das Gewitter gekommen ist, ist es auch wieder vorbei. Im Stadtverkehr schieben wir uns den Berg zur angegebenen Adresse hinauf. Geschafft! Nur noch in die Wohnsiedlung und „Hi!“ schallt es aus einem Auto. Der Vater und die jüngere Schwester vom Nordkap strahlen aus dem offenen Fenster. Wir winken erfreut und fahren weiter die letzten paar Meter. Schon stehen wir auf der Auffahrt vor dem schönen Haus und die ganze Familie begrüßt uns herzlich. Emil und Elias werden in der Garage zum Rasten abgestellt. „Just relax and take a shower. Feel like home.“ Wir machen uns frisch und schon gibt es Abendbrot. Der Tisch ist reich gedeckt. Es gibt Gurken und Tomaten aus dem eigenen Garten, gegrilltes Fleisch, Brot, Reis… kurzum alles was das Herz begehrt und mehr. Dazu Wein, Bier, Wasser, selbstgemachter Saft. Unė fällt auf, dass wir uns alle noch gar nicht vorgestellt haben. Stimmt und doch ist es als würden wir uns irgendwie bereits kennen. Somit geht es reihum. „Andrius“, „Edita“, „Smiltė“, „Unė“ und „Kyra“, „Michael“. Wir reden, trinken, essen und lachen gemeinsam. Oh, ob das Wetter hält. Es hält! Nur die Äpfel des Apfelbaums jagen uns einen kurzen Schrecken ein, als einer von ihnen mit einem lauten „Pockkk“ vom Baum fällt. Wir sind alle satt. Obwohl, noch ein bisschen Reis, ein Stück Fleisch. Nun aber… wir langen nochmal zum Gemüse aus dem Garten. Es ist einfach zu lecker und einfach nur schön. Für uns ungewohnt, dürfen wir als Gäste beim Aufheben der Tafel nicht behilflich sein, aber wir helfen doch gerne. „No just sit and relax. You’re our gusts.“, wird uns mehrmals ans Herz gelegt. Na gut, wir geben auf und setzen uns auf die Terrasse. Der Nachtisch wird serviert. Käsekuchen und Kuchen mit Beeren, Himbeeren aus dem Garten sowie Brotchips, Kaffee und Tee – selbstgepflückter Lindenblüten-Tee. Wir sind überwältigt und stellen doch fest, dass wir noch ein bisschen Platz in den Mägen haben. Die Zeit verfliegt bei den Gesprächen über die Schulsysteme, das Nordkap, unsere Touren. Dann fallen uns so langsam die Augen zu. Wir planen noch das Frühstück für morgen. Danach möchten Unė und ihr Freund uns die Stadt zeigen. Wir wünschen uns alle eine gute Nacht und verschwinden in unsere Zimmer. Was für eine tolle Familie!